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Cinema - Kino für die Ohren: Matthias Keller: Das Gesicht zur Stimme

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Filmmusik, Musikproduktion & Dokumentation





Printmedia: Eine Auswahl von Beiträgen zu Filmmusik und Filmkomponisten

Spiel mir das Lied vom Film

Interview zum 70. Geburtstag von Ennio Morricone

Ennio Morricone
im Gespräch mit Matthias Keller

Zu über dreihundert Filmen hat er die Musik geschrieben. Darunter so bekannte Titel wie Novecento (1900), Es war einmal in Amerika, Cinema Paradiso, Allein gegen die Mafia, Der Profi, The Untouchables, In the Line of Fire - und vor allem Spiel mir das Lied vom Tod und all jene Italo-Western, die später auch mit dem kulinarischen Beiwort "Spaghetti" die Runde machten. Morricone ist ihr musikalisches Alter Ego. Auch wenn er es im Grunde längst müde ist, immer wieder auf diese Phase seines Schaffens reduziert zu werden. Und wer sich auch nur ein wenig mit diesem durch und durch eigenwilligen Genius auseinandergesetzt hat, der weiß, wie unangemessen eine solche Reduzierung ist - angesichts der immensen Dimensionen, den Morricones musikalischer Kosmos umspannt. Überhaupt: leidet er womöglich darunter, mehr oder weniger ausschließlich als Filmkomponist bekannt zu sein?

Morricone: "Nein, ich habe nie gesagt, dass ich unzufrieden damit bin, als Filmmusiker bekannt zu sein. Das nicht. Es tut mit nur leid, dass man mich nicht auch als Komponisten anderer Musik kennt - von Konzertmusik. Das bedaure ich. Aber nicht, dass ich als Filmkomponist einen Namen habe."

Es ist schwer, an den Maestro heranzukommen. Schwieriger, als bei anderen "Stars" des Metiers. Weniger wohl, weil er sich geriert oder in der Star-Attidüde gefällt, sondern eher, weil er von seinem Naturell her äußerst zurückhaltend ist. Beinahe scheu, wenn er zum Beispiel für ein Foto posieren soll. In diesem Sinne ist er der Prototyp des Filmkomponisten, der in relativer Anonymität lebt, während seine Musik weltweit Millionen Menschen kennen. Darunter regelrechte Hits, die auch jenseits der betreffenden Kinofilme über Wochen die internationalen Charts beherrschten: etwa das "Chi Mai" aus Der Profi oder sein unvergeßlicher Song "Here´s to you" aus Sacco und Vanzetti, den damals Joan Baez zur heimlichen Hymne der Friedensbewegung machte. Ganz zu schweigen von jener Mundharmonika aus Spiel mir das Lied vom Tod, die Morricone praktisch über Nacht in den Filmmusik-Olymp katapultierte. Und die vor allem deutlich macht, welcherart des Meisters Sprache ist: Reduzierung auf das Wesentliche! Das könnte man in Amerika von ihm lernen, die Kunst der Beschränkung und der Verdichtung - Letzteres durchaus im poetischen Sinne. Hat ihn Amerika jemals interessiert - ihn, der nicht ein einziges Wort englisch spricht, zumindest nicht offiziell?

Populäres und Avantgarde

Morricone: "Ich kann nicht sagen, welches wirklich meine Beziehung zu Amerika ist. Ich habe die amerikanische Filmmusik nie als Bewertungskriterium für mich genommen sondern immer so geschrieben, wie ich schreiben wollte." Und auf die Frage, ob denn sein Stil womöglich eine andere Richtung genommen hätte, wäre er in Hollywood seßhaft geworden: "Ich würde diesen Stil nicht unbedingt "typisch italienisch" nennen. Auch in Deutschland gibt es gute Filmkomponisten. - Nein, in der Tat hat mir die leichte Musik, Arrangements für Sänger zu machen, sehr genutzt. Es hat geholfen, Erfahrungen zu sammeln, indem ich fürs Radio, fürs Fernsehen, für Plattenfirmen Arrangements geschrieben habe und Songs. Aber es ist nicht so, dass ich so schreibe, weil ich in Europa bin, und weil ich in Amerika anders schreiben würde. Übrigens hätte ich nie nach Amerika gehen wollen, obwohl man mir sogar angeboten hat, dort zu leben. Ich ziehe es vor, hier zu sein."

Ein Satz, an dem man nicht einen Moment lang zweifelt. Denn Morricone, zumal im Ambiente seines Privatissimums, ist ein Römer wie er im Buche steht. Aufgewachsen im bekannten Stadtteil Trastevere als Sohn eines Trompeters und später ausgebildet am Conservatorio di Santa Cecilia - unter anderem bei Goffredo Petrassi - sammelt er frühzeitig Erfahrungen im Spannungsfeld zwischen U und E - von Popularmusik, wie sie beispielsweise auch in der Band seines Vaters praktiziert wird, und der musikalischen Avantgarde jener Jahre. 1958 ist er bei den Darmstädter Ferienkursen dabei, wo er John Cage assistiert bei der Aufführung von Luigi Nonos "Cori di Didone". 1965 tritt er (als Trompeter) auf Einladung Franco Evangelistis der Gruppe "Nuova Consonanza" bei, einem Improvisationsensemble, dem ausschließlich Avantgarde-Komponisten wie Egisto Macchi, John Heinemann und Ivan Vandor angehören, beschäftigt sich ferner intensiv mit seriellen Kompositionstechniken. Gleichzeitig jedoch - und das macht eine seiner Besonderheiten aus - verdingt er sich als Arrangeur, der insgesamt 500 Schlagertitel verfaßt, unter anderem für so prominente Künstler wie Peggy March, Charles Aznavour, Paul Anka, Mario Lanza, Milva, Anna Moffo, Astrud Gilberto und Joan Baez. Hier erwirbt er sich jene "leichte Schreibe", die er selbst zwar nicht als typisch italienisches Merkmal sieht, die aber doch nur gedeihen kann in einem Klima kantabler Volkskultur und multistilistischer Lebendigkeit. Die Fähigkeit, Themen und Melodien zu schreiben, die später die Spatzen buchstäblich von den Dächern pfeifen und dabei gleichzeitig die Ansätze musikalischer Avantgarde nicht zu verraten, ist Morricones große Kunst. Er wird zum Inbegriff des Außergewöhnlichen; des Filmkomponisten, der eine gewisse andersgeartete Musik schreibt; des Konzertschaffenden andererseits, der nicht müde wird, Neues zu erproben und dabei gelegentlich sogar das Kapital der einen Sphäre in die andere mit einzubringen. Ein Picasso-Typ vielleicht, der die Kohärenz liebt und zu seinem Markenzeichen kultiviert. Die Kunst der Kollage, der augenzwinkernden Doppelbödigkeit, der Parodie.

Morricone: "Also das sind zwei völlig unterschiedliche Dinge. Die Musik, die für Konzerte entsteht, geht aus einem persönlichen Bedürfnis hervor. Es ist eine Lust, sich auszudrücken, ausdrücken zu müssen. Wohingegen die Musik für den Film aus dem Dienst heraus entsteht, den man für ein anderes Werk, den Film, erbringt. Filmmusik ist ja durch die Story bedingt, den Regisseur, den Geschmack des Publikums und auch durch Moderichtungen. Aber ein Autor muß auch unter diesen Bedingungen seinen Stil finden, eine Technik, die eigenen Vorstellungen zu verwirklichen."

Gerade der letzte Satz scheint im Fall Morricone der wesentliche zu sein. Denn wenngleich oberflächlich betrachtet seine hitverdächtigen Filmthemen so gar nichts gemein haben mit jenen avancierten Klängen fürs Konzertpodium, so gibt es doch einige Berührungen. Etwa gewisse serielle Techniken in Filmen wie The Untouchables, wo er gerade die Actionszenen mit einer Anti-Actionmusik auflädt, oder die lange Wartesequenz im selben Film ("Waiting on the Border"), die er mit einer fast minimalistischen "Zeitmusik" bestückt. Oder schon allein seine Vorliebe für ungewöhnliche Instrumentierungen, für pfeifende Westernganoven, verzerrte Elektro-Gitarren, Rülpslaute, scheppernde Kinderstimmen und exotisches Schlagwerk. Nicht zu vergessen seine zum Teil äußerst raffinierten polyrhythmischen Strukturen.

Morricone: "Ja, wenn es möglich ist, integriere ich absichtlich - aber auch in Absprache mit dem Regisseur - Dinge in den Film, die mich auch in der Konzertmusik persönlich beschäftigen. In der letzten Zeit gibt es zunehmend eine leichte Konvergenz zwischen der Filmmusik und der Konzertmusik. Diese Verwendung von seriellen Techniken, aber manchmal auch der vollständigen Serialisierung des Tonmaterials im Film - also nicht nur der Töne sondern auch der Werte, der Höhen, der Pausen, der Klangfarben - das ereignet sich tatsächlich in meiner Musik und läßt sie eben ganz anders erscheinen als das, was man aus Hollywood kennt."

"Jemand hat einmal geschrieben, Ihre Musik klinge so, wie es im Kopf des Laienhörers aussehe: Gleichzeitigkeit von historisch Ungleichzeitigem, also das Prinzip der Brechung - beispielsweise durch einen Elektrobaß, der sich in eine barocke Textur verirrt hat oder die Kombination anderer disparater Elemente wie Mozarts "Kleine Nachtmusik" zu Blockflötenklängen und Marschryhythmen in Giù la Testa (Todesmelodie)."

Morricone: "Dieses Stück soll eine kunterbunte Kollage sein. Denn es war sehr lang; der Marsch und das Thema waren auf Dauer zu gleichförmig und ich mußte Form- und Stilmittel finden, zu variieren. Und deshalb habe ich die Form der Kollage gewählt, die mich dazu brachte, sogar solche klassischen Stücke zu zitieren, die gar nichts mit dem Ganzen zu tun hatten - weder mit dem Film noch mit der Musik. Ich weiß nicht, ob das Wort "Kollage" im Deutschen klar ist: Kollage bedeutet die Verwendung von ziemlich vielen Elementen, die untereinander nicht kompatibel sind."

"Sie scheinen überhaupt sehr gerne Montagetechniken anzuwenden beziehungsweise scheinbar vertraute Klänge ein bißchen schiefzustellen und die Dinge nach eigenem Gusto miteinander zu kombinieren".

Morricone: "Wer hat gesagt, dass man das nicht darf? Wir leben heute die Musik. Wir wissen alles, was passiert ist in der Vergangenheit. Wir verwenden den Dudelsack, die Barockflöte, die Blockflöte, das Cembalo und stellen das dann neben den elektrischen Baß und das Schlagzeug - warum nicht? Die Tatsache, dass ich Instrumente verwende, die im Barock gespielt wurden, heißt ja nicht, dass ich Barockmusik mache. Es heißt, dass ich einen Klang, eine Klangfarbe verwende, die eine andere Epoche betrifft und die ich ins Heute integriere."

"Schlägt Ihr Herz heimlich im Barock?"

Morricone: "Ich glaube schon, dass ich ein Barockmusiker bin. Das heißt, dass ich in manchen Situationen zu musikalischer Komplexität neige, die man als "Barockismus" bezeichnen könnte. Aber nur, um eine musikalische Komplexität zu erreichen, nicht weil ich Barockmusik im historischen Sinn mache."

Ausgebildet nach allen Regeln des klassischen Handwerks als Trompeter, Komponist, Dirigent und Chorleiter, sieht sich Morricone selbst als geradezu prädestiniert für das Genre "Filmmusik" und findet es vor diesem Hintergrund völlig normal, aus dem Vollen des erworbenen Materials zu schöpfen - mit einer, wie er selbst sagt "Panoramasicht von 360 Grad". Im übrigen findet er, dass Filmmusik eines gerade nicht sein dürfe: klassische Musik, Kammermusik, Rock, Pop oder Folk. Sie müsse freilich von allem etwas sein - nur nicht das eine speziell. Betrachtet man die Art seiner Filmmusik, so fällt auf, dass sie sich keineswegs immer mit der Rolle der Sekundantin, des sogenannten "underscorings" begnügt sondern durchaus auch im Mittelpunkt stehen will. Legendär ist in diesem Zusammenhang Morricones Aussage, er habe mit einem Regisseur wie Sergio Leone vor allem deshalb so fruchtbar zusammengearbeitet, weil ihm dieser Zeit eingeräumt habe, sich auszusingen: lange Kamerafahrten, Landschaftschwenks, musikalisch inspirierte Schnitte. Und nicht nur dies: denkt man an einen Film wie Spiel mir das Lied vom Tod mit seiner theatralisch angelegten Leitmotiv-Dramaturgie, so fällt auf, dass Morricones Art von Filmmusik eine höchst involvierte ist, mit stark melodramatischen Zügen. Paradebeispiel: Pasolinis früher Film Uccellacci e Uccellini (Große Vögel, kleine Vögel), in dem der Komponist gleich zu Beginn die Namen der einzelnen Darsteller singen (!) läßt anstelle des üblichen Textvorspanns. Hält er bewußt nach solchen Sujets Ausschau, in denen die Musik oder ein bestimmtes Instrument eine entscheidende Darstellerrolle spielen?

Morricone: "Also, das hängt nicht nur von mir ab. Das hängt auch vom Regisseur ab. Warum ist die Musik von The Mission und Spiel mir das Lied vom Tod aktiver als in anderen Filmen? - weil der Hauptdarsteller von Mission die Oboe ist, und weil der Hauptdarsteller von Spiel mir das Lied vom Tod die Mundharmonika ist. Dies führt zu einer bestimmten Arbeitsweise beim Komponisten, für den der reale Klang der Mundharmonika und auch der Oboe später zu einem Faktum wird, das der Erinnerung dient und auch der Ausdruckskraft des Films - weil sie wiederholt gehört werden. Wir wissen zwar, dass es dann keine reale Quelle ist, aber es wirkt als reale Quelle. Es ist nicht real in dem Moment, in dem wir sie (aus dem Off) hören, aber "real" aufgrund vorangegangener Sequenzen des Films."

Dann also andersherum: nicht Morricone bestimmt die musikalischen Sujets seiner Filme, aber die Regisseure scheinen sich ein ums andere Mal gerade ihn auszugucken - weil sie sehr wohl wissen, dass ihm derlei Konzeptionen besonders liegen. Beispiel Es war einmal in Amerika, Leones abendfüllendes Mafia-Epos mit Robert De Niro in der Hauptrolle. Wo kommt denn da plötzlich Gheorghe Zamfirs Panflöte her - als Leit- (und Leid-)Motiv für Noodles?

Morricone: "Wie - haben Sie den Film nicht gesehen? Da gibt es doch ganz zu Anfang diese Stelle, wo der kleine Junge, einer der fünf Jungen, eine kleine Panflöte spielt." (pfeift das betreffende Motiv, welches mich wiederum ein wenig an Nino Rotas Stil erinnert).

Gibt es da eine Affinität zwischen ihm und Rota?

Morricone: "Nein. Zwischen uns besteht ein riesiger Unterschied - stilistisch, kulturell. Aber das heißt nicht, dass er für den italienischen wie für den internationalen Film nicht bedeutend gewesen wäre. Er sollte nur nicht auf das reduziert werden, was er für Fellini gemacht hat, weil Fellini eine sehr begrenzte musikalische Kultur hatte. Aber Rota war ein viel besserer Musiker, als das, was Fellini von ihm wollte. In Casanova zum Beispiel und in Filmen, die er mit anderen Regisseuren gemacht hat. Dennoch, zwischen uns gibt es keinerlei Affinität."

Paradebeispiel The Mission

Obwohl Morricone bereits mehrfach für den Filmmusik-Oscar nominiert war und auch viel für amerikanische Studios gearbeitet hat (Exorzist II, Frantic, Bugsy, In the Line of Fire, Enthüllung, Lolita), ging er bislang bei der wichtigsten aller Preisverleihungen stets leer aus. Eine Schande eigentlich, wenn man bedenkt, welchen einmaligen Beitrag gerade er zur Filmmusik-Kultur beisteuerte. Paradebeispiel The Mission, das manch einer z seinen besten Filmscores zählt. Ein Sujet, wie geschaffen für Morricone. Denn im Mittelpunkt steht hier ein Jesuitenpater namens Gabriel (Jeremy Irons), der mit seiner Oboe auszieht zum Volk der südamerikanischen Guarani um diesen die Botschaft des Christentums zu bringen. Seine Widersacher sind der einheimische Mendozza (Robert De Niro) und, wie sich später herausstellt, die Spanier und Portugiesen, die sich mit Papst und Kirche erbitterte Auseinandersetzungen liefern. Das Ganze fußt auf authentischen Hergängen und spielt im 17. Jahrhundert. Wenn am Schluß die Mission scheitert und alles in einem barbarischen Gemetzel untergeht, so ist es gerade Morricones musikalisches Schlußwort, das hier Trost spendet - indem es auf musikalischer Ebene das schafft, wozu die Handelnden offenbar nicht in der Lage sind: eine Art kulturübergreifender Verständigung, eingefädelt in meisterhafter kontrapunktischer Manier, die dem Musikliebhaber und wohl auch so manchem Bach-Fan das Herz aufgehen läßt. Schade nur, dass dieses Schlußwort, auf dem Soundtrack genannt "On Earth as it is in Heaven", erst ganz am Ende erklingt, wenn bereits der Abspann läuft und die meisten aus dem Kino rennen.

Morricone: "Ich habe diese Partitur geschrieben, ohne zu wissen, an welche Stelle im Film ich sie setzen werde. Das passiert bei mir sehr oft, weil ich ein Bedürfnis verspüre, meine Ideen einfach auszuführen. Im betreffenden Stück sind es folgende Kernideen: erstens die vom Hauptdarsteller gespielte Oboe. Da er aus Europa kommt, ist klar, dass das von Pater Gabriel gespielte Thema ein Post-Renaissancestück sein mußte, eben entsprechend der Instrumentalentwicklung im damaligen Europa. Zweitens: was brachten die Priester, die Jesuiten nach Südamerika, wenn nicht ihre musikalisch-liturgische Kultur!? Also vor allem Chormusik, die aus dem Tridentinischen Konzil hervorgegangen ist. Dieses hatte - und Palestrina ist ein Modell hierfür - vorgeschrieben, wie sich die Komponisten der Kirchenmusik zu verhalten hatten; diejenigen, die Motetten und Messen schrieben. Denn vor diesem Konzil hatte großes Durcheinander geherrscht. Man sang weltliche Lieder mit religiösen Texten und religiöse Lieder auf weltliche Texte. Und dann machte das Tridentinische Konzil dem Ganzen ein Ende. Also mußte ich etwas schreiben, das der liturgischen Musik nach dem Konzil entsprach. Drittens: die Musik des Volkes vor Ort, der Indios. Also, im Finale ist die einzige Stelle, wo alle drei Elemente zusammenkommen: die Oboe, der liturgische, motettenartige Chor und das Folklore-Element. Das war vielleicht keine absolut historische Sequenz aber eine moralische. Inwiefern "moralisch"? - Diese Ansteckung der Folkloremusik der Indios durch die westliche Kultur - repräsentiert eben durch die Oboe - bedeutete moralisch die Kommunion der Jesuiten mit den Indios. Eine Kommunion, die sie schließlich gemeinsam in den Tod treibt. Meiner Meinung nach paßt es gut so, weil der Regisseur hier etwas getan hat, was sonst nie geschieht. Da ist am Schluß das Kind mit seinem Kanu, das nun wählen muß, ob es aus dem Wasser entweder das Stück Messing herausfischt oder jene Violine (die ebenfalls vorübertreibt). Er wählt die Violine - symbolisch für die Kommunion der Jesuiten. Dann beginnt die Musik und der Junge fährt in seinem Kanu davon. Die Musik spielt weiter, schwillt an und nach langer Zeit kommt ein Bild des Kardinals Altamirano, der mit dem Töten und all den Dingen der Brasilianer und Argentinier einverstanden war, und der nun bereut und weint. Das ist wichtig. Und dass der Junge die Violine wählt - aber die Leute kapieren das vielleicht nicht."

Die beschriebene Musik zählt zweifellos zu Morricones komplexesten, die er jemals komponiert hat. Und sie war aufgrund ihrer vertrackten polyrhythmischen Strukturen (Oboe, Chor und Streicher musizieren im 4/4-Takt, während die Percussionsabteilung im 3/8-Metrum spielt, ebenso wie der Folklorechor der Eingeborenen) sicherlich ausgesprochen problematisch zu realisieren. "Wie haben Sie das damals in London aufgenommen - simultan oder nacheinander, quasi im "Multitrack"-Verfahren?"

Morricone: "So etwas geht nur separat. Auch die Oboe, die sich aus der großen Masse erhebt. Das waren hundertfünfzig Musiker in Chor und Orchester. Wie macht man das, wenn nicht mit separater Aufnahme?"

Spätestens hier ist der Meister ganz in seinem Element, klopft das Metrum, singt dazu die einzelnen Stimmeinsätze und geht schließlich noch hinüber an den Steinwayflügel, um die Session dort fortzusetzen. Eine Szene, die zeigt, wie sehr auch er selbst in seiner Musik lebt, offenbar wohl wissend um deren Qualität. Warum gibt es diese Stücke nirgends gedruckt zu kaufen? Es existieren Dutzende von Morricone-Adaptionen auf CD, nachgespielte Versionen, die allzu häufig mehr schlecht als recht "heruntergehört" wurden vom Original-Soundtrack. Und wo andere Filmkomponisten mitunter fleißig ihre Hits auch als Klavier- und sonstige Arrangements unters Volk bringen, da verweigert sich Morricone von jeher jeder Form von Publikation.

Morricone: "Sollen diejenigen doch ein katastrophales Arrangement machen. Ich bin für das Original verantwortlich. Ich habe zum Beispiel ein Stück komponiert für Streicher, Trompeten, Harmonika, Posaunen und Flöte: das ist meine Version. Sollen die anderen machen, was sie wollen."

Auch den Vergleich mit klassischen Komponisten, deren Werke schließlich alle im Druck vorliegen, läßt er nicht gelten.

Morricone: "Filmmusik wird dann als veröffentlicht betrachtet, wenn sie im Film und auf CD erscheint. Sie ist nicht für die Veröffentlichung auf Papier vorgesehen."

Womit er natürlich genau jenem Mißbrauch Vorschub leistet, dessen kümmerliche Resultate er bemängelt. Aber so ist er eben: ein hoch intuitiver Genius, der zweifellos auch seine Widersprüche hat. Das macht sein Profil aus, die gewissen Ecken und Kanten dieses italienischen Herrn. Eines ist sicher: seit Morricone den Musikglobus betreten hat, insbesondere den filmmusikalischen, führen viele Wege nach Rom.

Matthias Keller

Biografie Ennio Morricone

Ennio Morricone wurde am 10. November 1928 in Rom geboren. 14-jährig beginnt er, Trompete zu spielen. 1938-56 Studium am Conservatorio Santa Cecilia in Rom (Trompete bei Umberto Semproni und Reginaldo Caffarelli, Komposition u.a. bei Goffredo Petrassi). In den 50er Jahren gehört er zur italienischen Avantgarde, arbeitet parallel hierzu als Arrangeur von Unterhaltungsmusik u.a. für das italienische Radio (RAI), später auch TV. Seine bei RCA veröffentlichen Schlager und Arrangements (über 500 Titel) werden prägend für dieses Genre, insbesondere in Italien. Seine erste Filmmusik schreibt Morricone 1961 für Luciano Salces Il Federale (Der Verbandsführer). In der Folge komponiert er praktisch für alle namhaften Regisseure, angefangen bei Lina Wertmüller (Ninfa Plebea) über Sergio Leone (Für eine Handvoll Dollar, Spiel mir das Lied vom Tod, Giù la Testa), Bernardo Bertolucci (Novecento), Pier Paolo Pasolini (Uccellacci e uccellini, Teorema), Henri Verneuil (Der Gehetzte der Sierra Madre), Paolo und Vittorio Taviani (Allonsanfan) bis hin zu Brian de Palma (The Untouchables), Franco Zeffirelli (Hamlet), John Carpenter (Das Ding aus einer anderen Welt) , Barry Levinson (Bugsy, Enthüllung), Roman Polanski (Frantic), Wolfgang Petersen (In the Line of Fire) und Roland Joffé (The Mission). Internationalen Durchbruch als Filmkomponist hat er 1968 mit der Musik zu Sergio Leones Italo-Western Spiel mir das Lied vom Tod. Seine Filmkompositionen zeichnen sich durch (scheinbare) thematische Simplizität und Eingängigkeit aus, sowie durch die Ökonomie des Materials. Das Prinzip von Kollage und Parodie wird zu einem von Morricones Markenzeichen, gleichzeitig aber auch die filmmusikalische Integration unorthodoxer Klänge, serieller Techniken und polyrhythmischer Schichtung. In zunehmendem Maße gelingt ihm die Synthese von "hoher" und "niederer" Musik, von konzertanter und angewandter (Film)Musik. Als Mitglied der Gruppe Nuova Consonanza setzt sich Morricone verstärkt auch mit der Improvisation auseinander, die er jedoch bei der Realisierung seiner Filmpartituren eher meidet. Bevorzugt nimmt er in Rom (und London) auf, wobei er häufig mit denselben ihm vertrauten Künstlern zusammenarbeitet (z.B. Edda dell'Orso). Morricone lebt in Rom, ist seit 48 Jahren verheiratet und hat vier Kinder. Zusammen mit seinem Sohn Andrea (geboren 1964), schrieb er 1988 die Musik zu Cinema Paradiso. Obwohl bereits mehrfach für den Academy Award nominiert (Days of Heaven, The Untouchables, Bugsy, The Mission), blieb Morricone bislang ohne die renommierte Auszeichnung. Seine bislang letzte Filmpartitur war diejenige zu Lolita (Regie: Adrian Lyne). Was sein konzertantes Oeuvre betrifft, so ist dieses im Vergleich zu seinen Filmsoundtracks eher sparsam auf Tonträger dokumentiert.

Matthias Keller

Januarheft 99
 

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